Am 12. März entscheiden die Stimmberechtigen der Stadt St.Gallen über die Ausdehnung des Baumschutzes. Im Vorfeld ist eine öffentliche Debatte um grosse Bäume im Siedlungsraum entbrannt. Das Abstimmungskomitee «Baumschutz Ja» begrüsst dies, ruft aber gleichzeitig dazu auf, anhand von Fakten und nicht aufgrund von Bauchgefühlen zu argumentieren.

Die Girtannerstrasse als Beispiel.
Bild links: Noch 2008 gab’s links und rechts der Strasse viele Bäume.
Bild rechts: 2021, rechts der Strasse sind viele Bäume einem Verdichtungsprojekt zum Opfer gefallen.
Bilder: Stadt St.Gallen
Herausgefordert fühlt sich das Abstimmungskomitee «Baumschutz Ja» insbesondere durch Behauptungen in zwei Medienkommentaren, St.Gallen sei immer noch grün genug. Das entspreche fürs St.Galler Siedlungsgebiet insbesondere in der Talsohle absolut nicht den Tatsachen, hält das Komitee in einer Mitteilung fest. Im Siedlungsgebiet der Stadt wohnten, arbeiteten und lebten St.Gallerinnen und St.Galler aber tagtäglich. Dort verbrächten sie die meiste Zeit und nicht in den Naherholungsgebieten im Grünen Ring. Im Siedlungsgebiet und vor allem in der Talsohle der Stadt werde man die bereits spürbaren Folgen der Klimakrise rasch abfedern müssen, um Wohn- und Lebensqualität zu erhalten.
Studien und Fakten nicht einfach ignorieren
Wer pauschal und plakativ die Behauptung in den Raum stellt, St.Gallen sei grün genug, operiert gemäss Abstimmungskomitee «Baumschutz Ja» auf Basis seines Bauchgefühls und allenfalls fehlender Ortskenntnisse. Zudem ignoriere er Studien der vergangenen Jahre. Diese zeigten, dass St.Gallen bezüglich Durchgrünung seines Siedlungsgebiets keinen Spitzenplatz unter den grössten Schweizer Städten mehr einnehme. Ebenfalls nachgewiesen sei, dass die Biodiversität auf fast dem ganzen Stadtgebiet in den vergangenen Jahren stark gelitten habe. Zahlen und Luftbilder belegten zudem, dass im vergangenen Jahrzehnt zahlreiche grosse Bäume aus dem Siedlungsgebiet ersatzlos verschwunden seien.
Die Studie «Grünes Gallustal» beispielsweise kommt zum Schluss, dass in der Stadt St.Gallen in den vergangenen 45 Jahren konkret die Fläche von 383 Fussballfeldern an Grünraum verloren gegangen ist – zu Gunsten von Wohnungen, Gewerbe und Strassen, aber zum Nachteil von Stadtnatur und Biodiversität. Diese problematische Entwicklung hängt gemäss der umfangreichen Studie damit zusammen, dass die Bevölkerungszahl der Stadt zwar bei etwa 80’000 stagniert, der Flächenbedarf pro Kopf aber zugenommen hat.
Bei Avenir Suisse nur noch auf dem achten Platz
Im Städtemonitoring von Avenir Suisse von 2018 schneidet St.Gallen beim Indikator «Anteil Grünanlagen im Stadtgebiet» mit Rang acht unter den grossen und mittelgrossen Schweizer Städten eher schlecht ab. Den höchsten Grünanteil im Siedlungsgebiet (also ohne Naherholungsgebiete) hat Genf (17 Prozent). Bei St.Gallen sind es 9,6 Prozent. Bei den mittelgrossen Städten weist Luzern mit 13,7 Prozent ebenfalls einen höheren Anteil an Erholungs- und Grünflächen im Siedlungsgebiet auf als St.Gallen. Schlusslicht dieser Studie ist Lugano.
In einem anderen aktuellen Städteranking, bei dem der Anteil von Grün- und Erholungsflächen an der Gesamtfläche (also unter Berücksichtigung der Naherholungsgebiete) in neun grossen Schweizer Städten gemessen wird, belegt die Stadt St.Gallen zwar Rang 6 mit einem Anteil von 32,1 Prozent. Lugano, Lausanne, Winterthur und Bern übertreffen dieses Resultat aber deutlich, und auch die Stadt Zürich liegt mit 35,5 Prozent vor der Gallusstadt. Das Komitee «Baumschutz Ja» kommt daher zum Schluss: «Egal, wie man es dreht und wendet, die Stadt St.Gallen hat in den vergangenen Jahrzehnten viel Grün verloren. Eine Trendwende ist nötig!»
Auch bei einem anderen Indikator für das Grün im Siedlungsraum schneidet die Stadt St.Gallen schlechter ab als andere Schweizer Städte: In St.Gallen sind gemäss Erhebung von Stadtgrün noch 14,4 Prozent der bebauten Fläche durch Baumkronen beschattet. In der Stadt Zürich beispielsweise beträgt der Baumkronendeckungsgrad des bebauten Gebiets 17, in Lausanne 20 Prozent. Beide Städte wollen angesichts des Urban Heating den Baumbestand nun wieder vergrössern und haben Zielgrössen dafür definiert. In Zürich soll bis 2050 25, in Lausanne bis 2040 30 Prozent der bebauten Fläche von Baumkronen beschattet sein.
Stadtbäume stark unter Druck
Die Entwicklung der Zahl grosser Bäume in St.Gallen ist nirgends statisch erfasst. Es gibt aber Indikatoren dafür, dass in verschiedenen Teilen der Stadt St.Gallen viele Bäume gefallen sind. Für die Studie «Grünes Gallustal» hat etwa der WWF 150 zufällig ausgewählte Fällgesuche der vergangenen zehn Jahre analysiert. Bei einem Drittel dieser Gesuche wurden keine Ersatzpflanzungen verfügt. In rund der Hälfte der Fälle mit Ersatzpflanzungen wiederum wurden die jungen Bäume nicht nachhaltig gepflegt, sie wurden etwa geköpft und gekappt. Nur schon im Rahmen der analysierten Gesuche wurden mehr als 250 grosse Bäume gefällt – die meisten ohne wirklichen Ersatz.
Der Verlust an Biodiversität ist auch in der Stadt St.Gallen messbar. Hauptursache ist das Verschwinden von Lebensräumen. Faktoren dabei sind etwa Kulturlandverlust und das Fehlen naturnaher Waldränder im Grünen Ring sowie der Verlust von Grünräumen, die Abnahme der Zahl grosser Bäume, das Verschwinden naturnaher Privatgärten, die rege Bautätigkeit und die intensive Versiegelung von Böden im Siedlungsgebiet. Zahlen für den Artenverlust in der Stadt gibt es kaum, weil systematische statistische Erhebungen bei Flora und Fauna für die vergangenen Jahrzehnte weitgehend fehlen.
Naturfreunde und Ornithologen belegen Artenschwund
Hinweise auf den lokalen Artenschwund liefern in der Studie «Grünes Gallustal» Beobachtungen von Naturliebhabern wie Fotograf Hans Oettli oder von Instituten wie der Vogelwarte Sempach. Fazit: Alles «weist darauf hin, dass die Lage auch in St.Gallen sehr ernst ist.» Ein Beispiel sind die Vogelarten, die in St.Gallen brüten: 2020 wurden 39 Brutvogelarten gezählt. Das ist eine erfreulich hohe Zahl. Sie wird allerdings dadurch relativiert, dass nur anspruchslose Arten zugenommen haben, während anspruchsvolle Vögel ausgezogen sind. Hot Spots mit seltenen Arten sind für Ornithologen auf Gebiet von St.Gallen fast nur noch die Tobel am Stadtrand.
Um die Vielfalt der Vogelwelt auf Dauer auf St.Galler Stadtgebiet zu halten, sind gemäss Brutvogelstudie 2020 dringend Massnahmen nötig. So gibt es in Bruggen schon ein Projekt zur Förderung des fast ausgestorbenen Gartenrotschwanzes. Empfohlen werden von Fachleuten zudem «mehr alte Bäume und Einzelbäume, vor allem in Kernzonen, Industrie- und Gewerbezonen», sowie die allgemeine Erhaltung «vorhandener alter Bäume». Dazu soll der «einheimische Baumbestand in Wohnquartieren» gefördert werden. Genau diese Ziele hat die Ausdehnung des Baumschutzes, über den in der Stadt am 12. März entscheiden wird. Das Abstimmungskomitee empfiehlt daher ein Ja zu dieser Vorlage.